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Forum Seltene Erkrankungen – InFUSION

– Sonderfall Biotherapeutika ?! –

Rund vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer chronischen seltenen Erkrankung. Eine Erkrankung ist als selten definiert, wenn weniger als 5 von 10.000 Menschen von ihr betroffen sind. Von den derzeit 30.000 bekannten Krankheiten werden etwa 7.000 bis 8.000 als selten eingestuft. Trotz der kleinen Patientenzahlen pro Erkrankung können die Auswirkungen von seltenen Erkrankungen nicht nur für Patienten und deren Familien, sondern auch für die Gesellschaft tiefgreifend sein. Seltene Erkrankungen stellen daher besondere Herausforderungen an alle Akteure im Gesundheitswesen.

Ein Sonderfall seltener Erkrankungen sind solche, die mit Biotherapeutika behandelt werden. Dazu zählen unter anderem Defekte des Immunsystems, Autoimmunstörungen oder chronisch entzündliche Erkrankungen des Nervensystems. Für die Therapie dieser Erkrankungen sind proteinbasierte Medikamente aus Blutplasma lebensnotwendig. Der Einzigartigkeit des Rohstoffs Plasma als Ausgangsstoff zur Herstellung lebenswichtiger Arzneimittel ist daher besonders Rechnung zu tragen.

In den Beratungen einer Expertengruppe* zu gegenwärtigen Herausforderungen für Plasmaprotein-Therapeutika im deutschen Gesundheitssystem wurden vielfältige Themen von Forschung und Produktion über Diagnose und Therapie bis hin zum Arzneimittel- und Sozialrecht angesprochen. Als drei für zukünftige politische Weichenstellungen zentrale Bereiche wurden

  • die Konzentration auf seltene Erkrankungen,
  • die Förderung der Plasmaspende und
  • die Überprüfung des derzeitigen Vertragssystems im Arzneimittelbereich identifiziert.

Entsprechend sind nachstehend drei Thesen formuliert, die mit der Expertengruppe abgestimmt und am 6. November 2018 in Berlin auf der Veranstaltung InFusion „Forum Seltene Erkrankungen – Sonderfall Biotherapeutika?!“ diskutiert wurden.

Thesenpapier

These 1:

Diagnosefindung und ärztliche Betreuung sind die größten Herausforderungen bei der
Versorgung von Menschen mit seltenen Krankheiten. Sie stellen die Akteure im Gesundheitssystem aus strukturellen, medizinischen und ökonomischen Gründen vor besondere Anforderungen. Die Bekämpfung seltener Erkrankungen muss mehr denn je
ein prioritäres Gesundheitsziel sein.

  • Der Mitte 2013 vorgelegte Aktionsplan des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit Seltenen Erkrankungen (NAMSE) muss weiter umgesetzt werden. Vor diesem Hintergrund ist zu begrüßen, dass die Geschäftsstelle des NAMSE ab dem 1. Dezember diesen Jahres weiterhin aus Projektmitteln des BMG finanziert wird. Gleichwohl sollten alternative Finanzierungsoptionen geprüft werden, um die Arbeit von NAMSE langfristig zum Wohl der Versorgung von Patienten mit Seltenen Erkrankungen zu sichern.
  • Spiegelbildlich zu der nur geringen Anzahl von Patienten in der Mehrzahl seltener Indikationen gibt es in der Regel nur wenige medizinische Experten zu deren Behandlung. Daher muss in Deutschland die Bildung von entsprechenden Fachzentren weiter gefördert werden. Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene (European Reference Networks) auszubauen. Für die klinische, patientenorientierte Erforschung seltener Erkrankungen ist es besonders wichtig, in vernetzten überregionalen oder internationalen Strukturen zu arbeiten.
  • Viel zu viele von einer seltenen Erkrankung Betroffene haben angesichts einer erst späten Diagnose bereits einen langen Leidensweg hinter sich, bis eine adäquate Therapie eingeleitet wird. Daher muss die frühzeitige Diagnose seltener Erkrankungen in allen Fachgebieten der vertragsärztlichen Versorgung verbessert werden, indem Warnhinweise rechtzeitig erkannt werden und sich klare Diagnosepfade unter Einschluss labormedizinischer Untersuchungen anschließen.
  • Die Kooperation spezialisierter Fachzentren mit bestehenden ambulanten Versorgungsstrukturen in der Fläche ist im Interesse einer optimalen Patientenversorgung in beide Richtungen zu stärken
  • Aber auch nach der eindeutigen Diagnose einer seltenen Erkrankung entstehen bei den Patienten noch häufig Unklarheiten über adäquate Behandlungs- und Versorgungsmöglichkeiten. Daher muss die Information der Patienten über ihre Erkrankung und ihre Beteiligung an den weitergehenden Therapieentscheidungen intensiviert werden.
  • Gerade in unserem komplexen Gesundheitswesen, das durch eine Vielzahl von Akteuren, Verantwortlichkeiten und Regelungen geprägt ist, kann die Definition von Gesundheitszielen zu einer angemessenen Qualität und einem wirtschaftlichen Ressourceneinsatz beitragen. Gesundheitsziele sind auch von Bedeutung, um Prioritäten und langfristige Perspektiven zu entwickeln sowie Sektor übergreifende Handlungsfelder zu definieren und zu vernetzen.

These 2:

Blut und Blutplasma sind knappe und wertvolle Ressourcen. Es muss ein gesellschaftliches Bewusstsein gefördert werden, damit sich die Spendenbereitschaft nachhaltig erhöht. Absender einer entsprechenden Kampagne könnte die BZgA sein.

  • Blut ist lokal – Plasma ist global: Die natürlichen Wirkstoffe im Blutplasma, wie Immunglobuline oder Proteine, die u. a. für die Blutgerinnung verantwortlich sind, werden zur Herstellung von Arzneimitteln durch die sog. Fraktionierung verwendet. Diese Arzneimittel werden gezielt in der Therapie eingesetzt und sind weltweit verfügbar. Daher ist eine Differenzierung zwischen Blut zur Transfusion und Plasma zur Fraktionierung erforderlich. Vollblut besteht zu 55 Prozent aus Plasma; daraus lassen sich acht Prozent Proteine gewinnen, von denen sind wiederum nur 16 Prozent Immunglobuline. Mit Immunglobulinen werden angeborene Defekte des Immunsystems, Autoimmunstörungen oder chronisch entzündliche Erkrankungen des Nervensystems behandelt.
  • Die Welt braucht mehr Plasma: 73 Prozent aller Plasmaspenden stammen aus den USA (bei einem Anteil von fünf Prozent an der Weltbevölkerung), 17 Prozent aus Asien (bei einem Anteil von 61 Prozent an der Weltbevölkerung) und nur neun Prozent aus Europa (bei einem Anteil von zehn Prozent an der Weltbevölkerung). Hier wäre ein erhöhter Anteil Europas wünschenswert.
  • Plasmapräparate sind hochkomplexe biologische Arzneimittel, die nicht synthetisch hergestellt werden können, sondern ausschließlich aus freiwilligen Spenden gewonnen werden. Das deutsche System mit öffentlichen und privaten Plasmaspende-Einrichtungen hat sich bewährt; es muss erhalten und gestärkt werden
  • Aufgrund verbesserter Diagnoseraten und zusätzlicher therapeutischer Innovationen wird der Bedarf an Plasma weiter steigen. Parallel dazu sinkt aufgrund der demographischen Entwicklung der Kreis der potentiellen Spender.

These 3:

Plasmaprotein-Therapeutika sind keine Generika – sie sollten nicht untereinander ausgetauscht werden, da sie jeweils ein einzigartiges biochemisches Profil aufweisen. Zudem unterscheidet sich die Produktion von Medikamenten aus Plasmaproteinen von chemischen Pharmazeutika und anderen Biologika durch wesentlich längere Herstellungsprozesse und deutlich höhere direkte Herstellungskosten. Das regulatorische Umfeld im Arzneimittelbereich trägt diesen Besonderheiten nicht ausreichend Rechnung. Das derzeitige Vertragssystem kann die Therapie- und Versorgungssicherheit durch eingeschränkte Marktzugänge gefährden und muss überprüft werden.

  • Die Gesundheitspolitik berücksichtigt in vielfacher Weise die besonderen Bedingungen und Bedürfnisse von Menschen mit seltenen Erkrankungen. Diese Regelungen müssen angemessen von der Gemeinsamen Selbstverwaltung umgesetzt werden.
  • Lebenswichtige Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen, wie z. B. Plasmaprotein-Therapeutika, sollten von Rabattverträgen ausgenommen werden.
  • Ausschreibungen von Krankenkassen und Einkaufsgemeinschaften sollten stets konsequente Mehrfachvergaben mit definierten Liefermengen zur Vermeidung von Lieferausfällen vorsehen.

* Dr. med. Jörg Bätzing (Leiter Fachbereich V / Regionalisierte Versorgungsanalysen & Versorgungsatlas, Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland), Dr. jur. Rainer Hess (Rechtsanwalt, ehem. Unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschuss), Prof. Dr. h. c. Herbert Rebscher (I|G|V RESEARCH – Institut für Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung, ehem. Vorstandsvorsitzender der DAK-Gesundheit), Dr. med. Harald Terpe (Arzt, ehem. MdB)